Jedem, dem eine Veränderung ins Haus steht, wird diese erst einmal etwas Überwindung kosten. Sei es ein neuer Modetrend, den man mitmacht und den Stil am eigenen Körper noch gewöhnungsbedürftig findet, eine vollkommen neue Frisur oder die erste Brille. Auch Mädchen fühlen sich in der Pubertät oft unwohl mit der ganz natürlichen Veränderung ihres Körpers. Doch alle Veränderungen haben etwas gemeinsam und auch etwas Gutes: In den meisten Fällen akzeptiert man sie, man gewöhnt sich automatisch daran und sie bringen uns in unserer persönlichen wie auch körperlichen Entwicklung immer einen Schritt weiter.
Peinliche Schwächen
Warum sollte das mit Hörgeräten also anders sein? Ist es nicht. Hinter der Notwendigkeit eines Hörgerätes steht immerhin auch eine Schwäche der eigenen Sinne, die man sich nach außen hin nun eingestehen muss. Es ist einem peinlich. Dieser Prozess beginnt in vielen Fällen lange bevor man überhaupt zum Hörgerät greift. Man stellt die ersten Schwierigkeiten beim Hören fest, wird von seinem privaten Umfeld darauf aufmerksam gemacht – was viele als bloßstellend empfinden. Dann weist man das Problem von sich und sucht andere Gründe für das schlechte Hörvermögen und schlussendlich muss man es sich dann doch eingestehen. Damit nicht genug, denn das Gedankenkarussell dreht sich weiter.
Was denken die anderen?
Man beginnt sich vorzustellen, wie man mit einem Hörgerät wohl aussieht, wie unangenehm das Tragen davon ist, was die anderen Menschen von einem denken, oder ob dies der Beginn des unaufhaltsamen körperlichen Verfalls ist. Auch diese Punkte haben etwas gemeinsam: Sie sind alle negativ behaftet und sollen einen davon abhalten das Tragen des Hörgerätes in Erwägung zu ziehen. Erstaunlicherweise denken aber nur die wenigsten vorher darüber nach, welchen Mehrwert der neue Alltagshelfer bietet, oder wie viele unangenehme Situationen dem Träger in Zukunft dadurch erspart bleiben. Imaginäre Sätze wie „Oh Gott, der trägt ja ein Hörgerät“ nehmen eine viel höhere Gewichtung an, als „Super, dass er sich endlich überwunden hat, das macht vieles so viel leichter“.
Wie reagieren Sie auf andere Menschen?
Was denken Sie, wenn Sie im Restaurant einen 35-jährigen Mann mit einem Hörgerät sehen? Attestieren Sie automatisch, dass er schwächer ist, oder weniger intelligent, oder dass das Hörgerät peinlich aussieht? Nein, genauso denken andere Menschen auch. In der Realität wird aus „Oh Gott, der hat ja eine Brille“ das kurze Wahrnehmen der Sehhilfe und der nächste Gedanke ist schon ganz woanders. Wenn es um das eigene Aussehen geht, entwickeln Menschen über die Jahre eine Art von Egozentrik. Man denkt, dass jeder in der Fußgängerzone auf das achtet, was man trägt, auf der Nase hat, hinterm Ohr haftet. Dabei haben die anderen Menschen ihre eigenen Probleme und Gedanken und machen sich eher Sorgen darüber, was Sie von ihnen denken – ein paradoxes Wechselspiel, in dem niemand glücklich wird. Oder?
Doch! Studien belegen, dass Menschen, die über ihren Schatten springen und auch vermeintliche Unannehmlichkeiten an sich heranlassen, glücklicher oder zumindest zufriedener und gelassener durch das Leben gehen.1
Schamgefühl wegtrainieren
Warum ist das so? Man setzt sich immer wieder neuen Unwägbarkeiten aus, nimmt in Kauf sich lächerlich zu machen, bei anderen Menschen anzuecken oder bloßgestellt zu werden. Und danach beginnt die Konditionierung. Wer gelernt hat mit Rückschlägen umzugehen, der weiß, dass in vielen Fällen keine oder geringe Konsequenzen daraus resultierten. Wenn ein Versuch aber funktioniert hat, dann war der Mehrwert größer, als all das negative, was man vorher schon verkraftet hat. Man lernt quasi, dass sich Überwindungen lohnen.2
Wir Menschen ziehen also Kraft aus unseren Erfahrungen, aus unseren Überwindungen und auch aus unseren Rückschlägen. Hörgeräteträger sind selbstbewusster nach der Eingewöhnungsphase, da sie sich schon an den kleinen Helfer gewöhnt haben und somit vielen Leuten in ihrem persönlichen Entwicklungsprozess einen großen Schritt voraus sind. Sie haben gelernt über ihren Schatten zu springen und werden das auch in anderen, dann nichtiger erscheinenden Situationen, mit einer viel größeren Leichtigkeit können.
Keine Angst, Sie werden hören
Mit wem würden Sie sich lieber treffen? Mit einem Gegenüber, der kein Hörgerät trägt und Ihrer Konversation nur teilweise folgen kann, weil er nicht alles hört, oder mit einem Gegenüber mit Hörgerät, der Ihnen aufmerksam zuhören kann, ohne dass Sie jeden dritten Satz sehr artikuliert durch das Café brüllen müssen?
Außerdem sollte bei der Entscheidung auch unsere Vernunft noch eine Rolle spielen. Lesen Sie hier, was passiert, wenn man seine Hörschwäche ignoriert.
Quellen:
- Cox et al.: Who Wants a Hearing Aid? Personality Profiles of Hearing Aid Seekers, Ear and Hearing: 26(1): 12-26
- https://www.fastcompany.com/3065385/why-embarrassment-can-be-a-good-thing-and-3-ways-to-deal
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